„Man kann alles Mögliche, auch im Alter“

Durch | 3. Juli 2018

Das Porträt: Gudrun Quessel hat eine seltene Qualifikation– sie ist Musikgeragogin

Hamm. In der Quizsendung „Was bin ich?“ – dem heiteren Beruferaten aus den Kinderjahren des Fernsehens – hätte Gudrun Quessel sicherlich gute Chancen gehabt. Die gelernte Krankenschwester und Diplom-Pflegewissenschaftlerin verfügt über eine berufliche Zusatzqualifikation, die kaum jemand kennt: Sie ist Musikgeragogin. Was sich hinter dem sperrigen Titel verbirgt? Eine Fachkraft, die mit älteren oder pflegebedürftigen Menschen singt und musiziert. „Singen ist heilsam“, davon ist Gudrun Quessel überzeugt. „Gemeinsames Musizieren berührt, aktiviert und verbindet, selbst wenn Menschen ansonsten in ihren Fähigkeiten eingeschränkt sind.“ Bereits in ihrer Ausbildung zur Krankenschwester im anthroposophisch ausgerichteten Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke kam sie mit dem Einsatz der schönen Künste in der Medizin in Berührung. Die Musikgeragogin bringt den Alltag von Senioren auf vielerlei Art und Weise zum Klingen. Sie arbeitete freiberuflich in verschiedenen Projekten und bildete für den Chorverband NRW Singgruppenleiter für die Arbeit mit älteren Menschen aus. Seit drei Jahren leitet sie den Sozialen Dienst im DRK-Seniorenstift Mark.

Gudrun Quessel wählt für ihre Arbeit mit älteren Menschen ein-fache Instrumente wie das Xylofon.

Der Regenmacher ist ein effektvolles Instrument: Kieselsteine, die im Innern herunterrieseln, erinnern an Regengeräusche.

Die Bewohner der Einrichtung profitieren von der musikalischen Ader der 59-Jährigen. „Das Einfachste ist: Wir hören zusammen Musik“, erzählt sie. Dazu legt sie gerne alte Vinyl-Singles aus ihrem Fundus auf. Der nostalgische Plattenspieler lässt sich auf einem Rollwagen auch in die Zimmer von Bewohnerinnen und Bewohnern schieben, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Als Krankenschwester und Diplom-Pflegewissenschaftlerin ist Gudrun Quessel geschult darin, gut zu beobachten und kleinste Veränderungen wahrzunehmen. Während Roy Black trällert oder Rudolf Schock aus dem Lautsprecher ertönt, schaut sie auf die Atmung, achtet auf den Grad der körperlichen Anspannung sowie auf Gestik und Mimik. In vielen Fällen bewirkt Musik etwas, selbst wenn ein betagter Mensch mit Worten kaum noch zu erreichen ist. „Manchmal summt jemand plötzlich leise mit“, erzählt die Musikgeragogin. „Doch jeder reagiert anders. Man muss sensibel dafür sein, ob es gerade passt.“ Ganz oben auf der Hitliste stehen Schlager und Operettenmelodien, die viele der älteren Menschen noch auswendig können. Die Musik bildet eine Brücke in die Vergangenheit. Sie weckt Erinnerungen und Gefühle. „Unsere Bewohner erleben in ihrem Alltag, dass sie vieles nicht mehr können“, berichtet Gudrun Quessel. „Manche der demenziell veränderten Menschen wissen nicht mehr, wie man eine Tasse richtig herum hält. Aber sie kennen die ersten drei Strophen von ‚Kein schöner Land‘“. In Gruppen verbindet die Musikgeragogin das gemeinsame Musizieren gerne mit kleinen Geschichten, die oft einen jahreszeitlichen Bezug haben. Meist gibt sie einen Anfang vor und wartet ab, was sich im Miteinander entwickelt: Das kann eine Melodie sein oder ein Lied, das zum Thema passt. Verschiedene Rhythmus- und Percussioninstrumente beflügeln dabei die Fantasie und Vorstellungskraft. Wer auf diese Weise ein lebendiger Teil einer Geschichte wird, erfährt: Ich kann was. Die Rasseln, Trommeln und Schellen eignen sich auch für Menschen ohne musikalische Vorbildung. Jeder kann sie nutzen, um sich auszudrücken.

Der Klangfrosch ist nur eines von vielen Percussioninstru-menten, das Gudrun Quessel einsetzt.

„Es geht nicht darum, jemanden zu erziehen und es kommt nicht auf Leistung an“, sagt Gudrun Quessel. Sie freut sich, wenn Menschen sich durch Musik berühren lassen. Wichtig ist ihr, die Senioren zu unterstützen und ihnen zu vermitteln, dass sie Fähigkeiten und Kompetenzen haben. „Man kann alles Mögliche, auch im Alter“, betont sie. „Wer singt, erlebt sich selbst, verbindet sich mit anderen und hat Spaß.“ Beim gemeinsamen Singen baut sie regelmäßig kleine Bewegungsfolgen ein. Mit den Armen nach den Sternen zu greifen oder sich mit den Füßen im Boden zu verwurzeln, hält beweglich.

Generell hat die Musik positive Wirkungen auf die Gesundheit. „Beim Singen atmet man tiefer ein und das ist gut für die Durchblutung. Es gibt wissenschaftliche Belege, dass beim Singen Glückshormone ausgeschüttet werden“, so die Expertin. Gesungen wird, was gewünscht ist: Oft sind das Volkslieder oder Hits von anno dazumal. Manchmal kommen dabei auch Erinnerungen an frühere Erlebnisse zutage. Wie schön das war beim Tanztee – und manchmal kommt dann Traurigkeit auf. „Auch das darf sein“, sagt Gudrun Quessel. Gerne stimmt sie mit den Senioren meditative Lieder mit einfachen Texten oder Melodien aus der Weltmusik an. So fließen musikalische Impulse aus den verschiedensten Kulturkreisen mit ein. Denn: Nicht nur das Altbekannte zu wiederholen, sondern auch Neues zu lernen, trainiert das Gedächtnis.

 

Gudrun Quessel begleitet sich und die Senioren beim Singen gerne mit der Ukulele. Ihren trag-baren Plattenspieler hat sie immer dabei.

Vielen Dank für den Artikel an den Stadtanzeiger: www.stadtanzeiger-hamm.de